Das Erkennen geht dem Anerkennen voraus.
In der neueren philosophischen Ideengeschichte gibt es eine Theorie der Anerkennung, welche ursprünglich auf Hegel zurückgeht. Auch wenn heute Anerkennung vor allem als besondere Wertschätzung gegenüber einer Person verstanden wird, so ist doch die Fähigkeit zur Anerkennung erst die Folge eines faszinierenden Erkenntnisprozesses. Jeder Mensch entwickelt sein Bewusstsein von sich und seiner Umwelt durch die Suche. Gesucht wird nach etwas, das schließlich als ein anderer Mensch erkannt wird. Das Belebte unterscheidet sich vom Unbelebten. Während der Mensch auf mich reagiert, so bleibt der Stein dagegen unverändert. Das Erkennen geht daher dem Anerkennen voraus. Einen Menschen sicher von unbelebten Dingen unterscheiden zu können, ist eine überlebenswichtige Eigenschaft, die mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins entsteht. So folgerte Hegel, dass Menschen einander zu erkennen versuchen und darüber eine soziale Gemeinschaft bilden. Wir würden heute zu dieser Suche nach anderen Menschen sagen, dass sie sich vernetzen.
Einen anderen Menschen sicher als Menschen erkennen zu können, ist notwendig, da wir aufeinander angewiesen sind. Kein Mensch könnte allein überleben. Etwas präziser ausgedrückt: die Menschheit an sich wäre nicht überlebensfähig, wenn alle nur auf sich allein gestellt wären. Das bedeutet in der Konsequenz, dass Menschen in Beziehungen zueinander treten, die zunächst nur bedeuten, selbst nicht verloren zu sein. Dieser Gedanke scheint nach unserem heutigen Verständnis abwegig, denn wir können uns sehr wohl Beziehungen zu anderen Menschen vorstellen, auf die wir gut und gerne verzichten wollten – wenn wir es nur könnten! Genau diesem Gedanken ist Hegel in seiner berühmten Denkfigur der Herr-Knecht-Dialektik nachgegangen. In dem prototypischen Herr-Knecht-Verhältnis gibt eine machtvolle Person einer ihr untergeordneten Person Anweisungen. Allgemein wird darunter verstanden, dass die untergeordnete Person kaum eine Wirkung auf die in der sozialen Hierarchie höher stehende Person ausüben könnte. Das ist bei genauerer Betrachtung jedoch nicht der Fall, denn ohne den „Knecht“, wäre der „Herr“ weniger wert. Der Mächtige wäre ohne Untergebene seiner sozialen Rolle entledigt und verlöre dadurch seine ihm angestammte soziale Position. Und so verfügt auch der Knecht gegenüber dem Herrn über eine zumindest abstrakte Macht. Die zentrale Schlussfolgerung aus diesem Gedankenexperiment lautet, dass es in der sozialen Hierarchie gegenseitige Abhängigkeiten voneinander gibt. Auch in der Hierarchie haben Menschen eine Bedeutung füreinander, so dass sie sich aufeinander beziehen und sich in dieser Beziehung gegenseitig anerkennen.
Soziale Medien werden mit Anerkennung groß.
Die etwas schwer zugängliche Theorie der Anerkennung aus jahrhundertalter philosophischer Tradition scheint für unsere heutige Welt einer digital vernetzten dynamischen Gesellschaft kaum mehr relevant zu sein. Und doch zeigen uns insbesondere digitale Technologien, wie aktuell die philosophische Theorie der Anerkennung ist. Das unter dem damaligen Namen Facebook gegründete Unternehmen ist zu einem Konzern Meta herangewachsen, indem es die Suche nach sozialen Beziehungen seiner Geschäftstätigkeit zugrunde legte. Jedoch sollte man sich die Geschichte des heutigen Konzerns nicht in der Weise vorstellen, dass die Unternehmensgründer von Facebook zuvor die Analysen von Hegel studiert hätten. Auch wenn die Erfindungen der Digitalwirtschaft als große Umwälzungen wahrgenommen werden, so sind digitale Technologierevolutionen Ergebnis von vielen kleinen Experimenten, von denen diejenigen weiterverfolgt werden, welche sich in der Praxis bewährt haben. Im Falle von Facebook war das Experiment ein Studentennetzwerk der Harvard University, in dem Studenten sich untereinander bekannt gemacht und füreinander relevante Informationen miteinander geteilt haben. Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook, erkannte, dass es den Menschen dabei um mehr als nur den Austausch von scheinbar relevanten Informationen ging. Studierende wollen sich in ihrer Bedeutung darstellen – ein individuelles „Gesicht“ in der anonymen Masse des Universitätsbetriebs haben. Der Name „Facebook“ bildet genau dieses Streben nach individueller Sichtbarkeit ab. Das Mark Zuckerberg mit der Vernetzung von Studierenden auf dem Campus der Harvard University ein altes Grundbedürfnis des Menschen ansprach, lässt sich am Aufstieg der Sozialen Medien als eigene Branche erkennen. Mobile Endgeräte, soziale Plattformen und Mediendienste verfügen alle über eine zentrale Eigenschaft – nämlich die Quantität und Qualität der mittlerweile vielzähligen sozialen Kontakte beherrschbar zu gestalten.
Traditionelle Hierarchien lösen sich auf.
Begleitet oder vielmehr gefördert wird der Aufstieg der sozialen Medien durch ein anderes gesellschaftliches Phänomen. Über viele Generationen hinweg haben sich die einstigen sozialen Hierarchien immer weiter aufgelöst. Während die Menschen zur Zeit der feudalen Gesellschaft in sozialen Ständen fest eingeordnet waren, so hatte dort jede Person die ihr zugewiesene soziale Position – so beschwerlich sie auch zu der damaligen Zeit gewesen sein mochte. Mit den jeweiligen Rollen waren Aufgaben verknüpft, die meistens für das materielle Überleben unabdingbar waren. So hatte jedes Mitglied einer handwerklichen oder bäuerlichen Familie eine bestimmte Funktion zu erfüllen, welche für den Fortbestand der Gemeinschaft relevant war. Durch gesellschaftliche Umwälzungen ist die feste Rollenzuordnung immer mehr in den Hintergrund getreten. Gab es bis weit in die 1970er Jahre noch die traditionelle geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in der Familie, so löste sich auch diese immer weiter auf. Für die Mitglieder einer Gesellschaft entsteht die neue Freiheit, denjenigen sozialen Platz einnehmen zu können, der zu den eigenen Lebensvorstellungen am besten passt. Während in einer hierarchischen Gesellschaftsordnung allen eine soziale Position fest zugewiesen war, so ist mit der flexiblen Netzwerkgesellschaft die Aufgabe entstanden, sich selbst seinen eigenen Platz im weiten sozialen Raum suchen und in diesem auch Anerkennung finden zu müssen.
Kaum besser als in den Sozialen Medien, lässt sich die Überlegung von Hegel empirisch belegen, dass das Erkennen dem Anerkennen vorausgeht. So besteht in der heutigen Gesellschaft der freien sozialen Bindungen, die vordringliche Aufgabe, in den Sozialen Medien überhaupt gesehen zu werden. Diese Aufgabe ist für die gegenwärtige Gesellschaftsform vollkommen neu. In der Tradition gibt es keine Erzählung, in der Menschen dazu aufgefordert gewesen wären, sich um ihre soziale Sichtbarkeit kümmern zu müssen. Dabei stellt die fehlende Wertschätzung einer positiven und lebensbejahenden Anerkennung nicht einmal das größte Problem dar. Als viel gravierender erscheint die soziale Ignoranz, die dann erlebt wird, wenn eine Person überhaupt keine Relevanz im sozialen Gefüge hat. Diese Erfahrung wird mit dem Begriff des Sozialen Todes benannt, welcher zwar nicht den physischen Tod bedeutet. Jedoch fühlt sich für eine Person, die von der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen ist, ein Leben in sozialer Isolation als nicht lebenswert an.
Die eigene sozialen Relevanz bestätigen.
Es gilt in den digitalisierten Netzwerkgesellschaft die Situation des allzu leicht eintretenden Sozialen Todes abzuwenden. Genauso schnell, wie man in Chat-Gruppen hineingelangen kann, so schnell ist man auch wieder aus ihnen heraus. Nicht unbedingt, weil man technisch aus dieser Gruppe ausgeschlossen wird, sondern weil sich darin möglicherweise niemand mehr auf die eigenen Nachrichten bezieht. Da sich viele soziale Gruppen sehr schnell bewegen, immer wieder neue Themen entstehen, welche wiederum eine Reaktion in Form einer Stellungnahme einfordern, so bedeutet es für Teilnehmer dieser Gruppen, permanent am Ball zu bleiben. Allein durch Folgen von Chats, Post und Profilen lässt sich die eigene soziale Relevanz im digitalen Mediengefüge nicht sichern. Für Menschen, deren Lebenswelt sich immer weiter auf die sozialen Medien zentriert, ist das Bedürfnis nach individueller Anerkennung nicht über die reine Wahrnehmung der Nachrichten anderer zu sichern. Unabdingbar ist die aktive Beteiligung in den jeweils gewählten Medien und Netzwerken, um zunächst überhaupt erkannt zu werden. Scheinbar relevante Nachrichten lösen sich permanent ab, wandeln sich und erhalten darin neue Relevanz. Für jede und jeden besteht in den Netzen daher die Aufgabe, im gegenwärtigen digitalen Strom von Nachrichten solche unterzubringen, welche die Chance haben, Aufmerksamkeit zu erzielen. Aufmerksamkeit ist nahezu garantiert, sobald Nachrichten emotionale Erregung auslösen.
Wenn es gelingt eine Botschaft zu platzieren, auf die sich viele andere über ihre Antworten beziehen, so treten dadurch andere Teilnehmer in den Hintergrund – nämlich diejenigen, denen die Aufmerksamkeit gerade nicht zu Teil wurde. Je nachdem, wie lange es die im Hintergrund Stehenden aushalten, aktuell weniger Beachtung in den sozialen Netzen zu bekommen, werden sie ihrerseits bemüht sein, durch ebenfalls bedeutsame Mitteilungen die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. In diesem Wechselspiel kann es zu einer Dynamik kommen, in der Mitteilungen sich in schneller Folge ablösen, sofern beteiligte Parteien um die größtmögliche Aufmerksamkeit miteinander ringen. In diesem Fall können Anerkennungswettläufe entbrennen.
Aus dem Streben nach größtmöglicher Anerkennung in Sozialen Medien sind Influencer-Follower Konstellationen entstanden, in denen die Währung der sozialen Aufmerksamkeit in die Währung des Geldes konvertiert wird. Die Influencer-Logik wird davon bestimmt, die Klickrate auf die eigenen mit Werbung hinterlegten Darstellungen im Internet zu erhöhen. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit der Influencer nicht an die bisweilen Millionen der Follower, sondern die Botschaft lautet: „werde so wie ich bin, dann bekommst Du auch diejenige Aufmerksamkeit, die Du Dir wünschst.“ Damit ist der Kampf um Anerkennung, wie er einst von Axel Honneth mit Bezug auf Hegel beschrieben wurde, nicht mehr nur ein abstraktes Phänomen von Philosophen. Der Kampf um die soziale Sichtbarkeit ist im Internet, in den sozialen Medien und auf Videoplattformen in vollem Gange. Dieser Kampf kann bisweilen unterhaltsam sein. Im Kern wird darin jedoch ein tiefes existentielles Bedürfnis verhandelt. Es geht um das soziale Sein oder Nicht-Sein.
Literaturhinweise
- Wer sich mit dem Ausgangspunkt der Anerkennungstheorie beschäftigen möchte, steigt am besten bei G.W.F. Hegel ein. Empfehlenswert ist zunächst das Kapitel „Vorrede“ zu überspringen und mit der kompakten „Einleitung“ zu beginnen: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, In: Moldenhauer, Eva; Michel, Karl Markus; Reinicke, Helmut (Hrsg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke. Phänomenologie des Geistes, Suhrkamp 1986.
- Eine zeitaktuelle Interpretation der Herr-Knecht-Dialektik findet sich bei Hannes Kuch: Kuch, Hannes: Herr und Knecht. Anerkennung und symbolische Macht im Anschluss an Hegel. Campus, 2013.
- Axel Honneth hat mit dem Buch Kampf um Anerkennung die Bedeutung sozialer Anerkennungsbeziehungen in den Bezug unserer heutigen Gesellschaftsform gesetzt: Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp 1994.
- Eine Verlängerung der Anerkennungstheorie mit Bezügen in unsere digital vernetzte Gesellschaft bietet Axel Honneth in diesem aktuelleren Buch: Honneth, Axel: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Suhrkamp, 2013.
- Ein Klassiker der modernen Sozialtheorie ist das Buch Die feinen Unterschiede von Pierre Bourdieu aus dem Jahr 1979. Mit wenigen Gedankenschritten lassen sich das Bedürfnis nach sozialer Unterscheidung auf die heutigen Praktiken in den Sozialen Medien anwenden: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp 2018.
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